"Der Stachel der Silberdistel"
               
                                                            von Christian Reich, Pfarrer i.R 

Weihnachten 1960 in Trappold 

                 
Dokumente und Berichte
einer   dunklen Zeit kommen ans Tageslicht.                                                                     In unseren Kellern liegen noch manche                                                                         Leichen der Vergangenheit. 

HISTORISCHER HINTERGRUND

1957 wurde die ungarische Revolution niedergeschlagen. Sie hatte Folgen auch für Rumänien. Ein Angstregime schlug um sich und witterte in jeder oft harmlosen Gemeinschaftsbildung ein Komplott gegen den Staat. Massenverhaftungen waren die Folge. Die Zeit schien aus den Fugen zu geraten. Viele Freunde und Kollegen wurden damals verhaftet, verhört und verurteilt, vielleicht misshandelt. Ein undurchdringliches Dunkel von Schikanen. Wer in die Fänge dieser Dunkelmänner geriet, wurde sie so leicht nicht los. 

Heute, 45 Jahre danach geschieht eine Art Abrechnung mit einem System, das seine teuflischen Strukturen hatte und das Historiker als ein untergegangenes Staatswesen bezeichnen. Gegen die Vergesslichkeit treten wir an. Ich berichte über einen Abschnitt, der zu mir und meiner Geschichte gehört. Ein Vorteil der Wende nach der Revolution ist unter anderem auch, dass wir uns offen unsere Biographie erzählen, ohne den Flüsterton zu gebrauchen. In der Schicksalsgemeinschaft nämlich, in der wir damals lebten, gab es leider auch eine Portion Misstrauen unter uns. Inzwischen genießen wir die freie Rede und schenken reinen Wein ein in der Aufarbeitung einer dunklen Zeit.

DAS GESCHEHEN:

Etwa halb zwei Uhr nachmittags muss es gewesen sein, dass man mich zum „Sfatul popular“ (Volksrat) bestellte. Es war Heilig Abend 1960, mein zweites Weihnachten in Trappold. Gelegen kam mir dieser Abruf ganz und gar nicht. Die letzten Vorbereitungen für die Christvesper waren noch nicht abgeschlossen. Chornoten und Quempas-Lieder zusammenlegen, die Reihenfolge der Gedichte für die Kinder überprüfen, um sie parat zu haben, sollte eines von ihnen stecken bleiben. Die Predigt noch einmal ansehen, rasieren, Hemd bügeln, Schuhe putzen und den Weihnachtsbaum noch fertig schmücken, der bei so viel Vorbereitung und Proben ins Hintertreffen geraten war. Das alles, noch ehe es dunkel wird und die Petroleumlampe ihre Funktion einnimmt.

Zwei Herren aus der Stadt wurden mir vom Preşedinte des Volksrates vorgestellt. Allgemeine Informationen über die Kirchengemeinde wollten sie haben: über Mitgliederzahl, Kirchensteuer, Jugendliche, wann und wo Religions- und Konfirmandenunterricht stattfinden, über Kirchenchor, Presbyterium, Nachbarschaft, Bauarbeiten und Friedhof. Sie stellten abwechselnd gezielte Fragen und wussten auch bescheid über meine Familienverhältnisse, dass ich oft nach Baaßen fuhr, (zu meiner zukünftigen Braut) dass Vater, Bruder, Cousins und zukünftiger Schwiegervater Pfarrer seien. Der Preşedinte und der Sekretär des Volksrates waren anfangs dabei, freundlich zogen sie sich dann zurück und mir schien es fast, dass es  ihnen etwas peinlich war, (durch mein Fußballspiel bei „Spicul Apold“  hatte ich mir manche Sympathien bei ihnen eingespielt). Nun ging es eine ganze Weile mit Fragen und Antworten umständlich hin und her. Dann merkten sie, dass ich wiederholt auf die Uhr sah und taten verwundert: Warum? Ob ich keine Zeit hätte? Worauf ich sagte, dass die Christenheit auf Erden heute die Geburt unseres Herrn Jesus Christus feiert, wie sie bestimmt wüssten, und dass mein Gottesdienst um sechs Uhr abends beginne. Sie verlangten darauf, nach längerem Palaver, dass nicht geläutet würde und keine Feier mit Bescherung der Kinder stattfinden dürfe, sondern erst am 31. Dez. beim „pomul de iarnă“ (Winterbaum) mit „Moş Gerilă“ (Väterchen Frost) die große Winterfeier für alle stattfände… Dem Sozialismus gehöre die Zukunft, Kirche sei nur noch ein historisches Überbleibsel, sie seien um Epochen voraus, die Partei weise die Richtung in eine helle Zukunft der Menschheit. Ich musste den Burghüter  bestellen.

DAS VERHÖR:

Schön langsam begriff ich, dass dies ein Verhör war und erst jetzt fiel mir ein, dass draußen vor dem Sfat eine geschlossene dubiţă (Kleinbus) stand und ein IMS (sprich: IMeSe = Geländewagen). Was sollte ich reden, wie viel durfte ich sagen, vielleicht ab jetzt schweigen?

Der Burghüter Andreas Filff  kam, ein Urgestein in der Trappolder Landschaft, gütig, treu und zuverlässig, verlegen lächelnd mit dem einen langen Schneidezahn in dem sonst zahnlosen Mund. Ich solle ihm das Läuten verbieten, hieß es. Worauf ich folgende Anweisung auf sächsisch erteilte: Herr Filff, Sie läuten heute um sechs so kräftig, wie nie zuvor zur Geburt unsers Herrn Jesus. Wenn sie das nicht tun, wie diese es wollen, dann verlieren sie ihren Dienst und ihre Wohnung. Nur der Bischof könne hier bestimmen. Und bitte rufen Sie so schnell wie möglich den Herrn Kurator Albert her. Die Zeit zerrann nicht einfach, sie rankte sich fest. Als es jedoch allmählich zu dämmern begann, kam ich ins Grübeln.  Ich dachte nach, wo könnte was gewesen sein, woraus sie mir einen Strick drehen wollten? Noch Klausenburg? Muntele Băişoara und Feleac, oder der St-Annen-See,? Hermannstadt, Hohe Rinne oder Prejbă? Eigentlich alles harmlose und fröhliche, sportliche, kameradschaftliche Treffen – so sah ich es wenigstens.

Jetzt werden die Frauen im Dorf die Wurst und das Fleisch vom frisch geschlachteten Schwein für den Weihnachtstisch hergerichtet haben. Die Männer würden ihre Kirchenpelze aus der Truhe holen und die Kinder zu Hause mit Lampenfieber noch einmal ihre Gedichte der Grusi aufsagen, die Adjuvanten und der Chor würden sich bald im „Museum“ zur Probe einfinden. Dann wird man sich – nach Trappolder Brauch – noch vor der „Eavandkirch“ (Abendkirche) zum Friedhof droben am Berg aufmachen, um Kerzen auf  Christbäumchen oder Tannenzweigen für die lieben Verstorbenen anzuzünden. Kinder und Erwachsene würden auch dort Gedichte aufsagen, auf jeden Fall „Weihnachten auf dem Friedhof“ von Michael Albert: „Wenn tief im Tal erloschen sind / am Weihnachtsbaum die Kerzen /

und noch im Traum so manchem Kind / die Freude pocht im Herzen …“

 Als sie nach meiner Bekanntschaft mit den Brüdern Bergel und Knall fragten und nach Stadtpfarrer Möckel und die Namen Scherg und Birkner ins Spiel brachten, wurde mir klar, worum es ging. Die Fragen wirkten zynisch. Es war trotzdem eine auszuhaltende Spannung, weil ich mir immer deutlich machte, dass ich in guter Gesellschaft war, mit unserm Herrn Jesus und mit Paulus und Silas und Bonhoeffer und vielen anderen Zeugen… Es überkam mich eine erstaunliche Ruhe. 

Es ging weiter: Klaus Knall war mein Mitschüler im Gymnasium, erklärte ich. Werner, sein Bruder ein Studienkollege, lustig, klug und musikalisch, Georg Scherg sei mein vielbewun-derter und von allen verehrter Professor im Gymnasium gewesen und  habe als Regisseur bei der Uraufführung seines „Giordano Bruno“ mit uns Schülern einen tiefen Eindruck hinter-lassen. Andreas Birkner sei mir als Pfarrer in Hermannstadt bekannt und Stadtpfarrer Möckel, aus Kronstadt, noch aus meiner Kindheit durch meine Eltern und später aus der Gymnasialzeit vertraut, eine vorbildliche Persönlichkeit … Wenn ich über diese Menschen zu erzählen hätte, dann brauchte ich ganz viel, viel Zeit. (Um Gottes Willen! Hatte ich jetzt zu viel damit gesagt? Würde es jetzt heißen: Dann kommen sie mit und erzählen uns denn alles, was sie

so wissen.)

Inzwischen  kam Kurator Albert. Ich bat ihn, heute im Gottesdienst meine Stelle einzunehmen, denn es sähe so aus, als würden mich diese hier halten. Er war sich seiner Mission sofort im Klaren. Kurator Johann Albert war selbstbewusst und stolz auf seine Herkunft mit dem berühmten Sohn des Dorfes, dem Gelehrten, Professor und Dichter Michael Albert. Er trug diese Würde in Sprache und Haltung deutlich zur Schau. Lesen sie Luk. 2 heute Abend, sagte ich. Die Kinder sollen ihre Lieder singen und die Gedichte aufsagen, Herr Zikeli soll die musikalische Leitung für alles übernehmen, und die Frauen wissen eh Bescheid mit der Bescherung der Kinder. Es geht diesmal vielleicht ohne Predigt. Dieses Weihnachts-fest werden wir alle nicht vergessen.

Inzwischen war nur noch der Hauptwortführer mit mir im Raum geblieben. Er blickte mich mit kühlen, gleichbleibenden Augen fest an, ohne die Augenlider auch nur ein einziges Mal zu schließen. Er hatte inzwischen die Position verändert. Wir standen am Fenster. Ich schloss kurz die Augen vor diesem Menschen ohne Gesicht, weil er gegen das Fensterlicht stand. Ich brauchte eine Stütze, um mich wenigstens für eine Weile unter Kontrolle zu bekommen. Wenn du jetzt umfällst, dann haben sie leichtes Spiel. Um der Gemeinde willen darf ich mir jetzt nicht Bange machen lassen, sondern getrost und locker eine Konfrontation aufnehmen. Ich wusste, hoffte, dass diese Leute letztlich die Verlierer sein würden. Das musste ich durchstehen. Noch einmal raffinierte Fragen mit viel Wissen über Familie, Freunde, Beschäftigung (z.B. über mein Klavierspiel bis in die Nacht hinein, über meinen Handstand im Garten, die Springgrube und das Speerwerfen)… und viel Bluff. Dabei kamen mir Gedanken wie: War´s das schon? Kaum gut begonnen mit meinem Pfarrdienst, mit viel Begeisterung und Elan und Plänen. Ich wollte meinen Vorbildern nachstreben, meinem Vater und Großvater. Ich hatte Erlebnisse auf den Pfarrhöfen bei Onkels und Cousins, bei meinem Bruder, bei meinem Vikarvater … Sollte ich das nun nicht anwenden können?   

Das Trappolder Pfarrhaus würde - kaum vom Staat zurückgegeben - wieder leer stehen, wenn sie mich mitnehmen. Wem würden dann die Jugendlichen jeden Samstag das Haus putzen und aufräumen. Welchem würden sie reihum das Essen bringen. Ab morgen war, glaub ich, die Iewerschtgauß dran. An wen müssten sich meine lieben Nachbarn neu gewöhnen? Würden meine neu angelegten Blumenbeete gepflegt werden?

Erst jetzt ging mir durch den Kopf, dass ich alle Rücksichtnahme auf Ilse vergessen hatte.

MEINE PREDIGT:

Wenigstens heute, zu dieser Stunde, in diesem Augenblick wollte ich meine Weihnachts-predigt loswerden, auch wenn nur ein Zuhörer da war. Meine veränderte Predigt hatte damals etwa folgenden Inhalt:

Weihnachten haben nicht wir Menschen gemacht. Weihnachten ist über uns gekommen. Es ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, nicht vom Kaiser Augustus damals oder von Pontius Pilatus noch von einer anderen Macht. Es hat begonnen in einem Winkel der Welt. Ein Kind wird arm in einem Stall geboren und die staatliche Macht hat etwas gegen dieses Kind. Zur Sicherheit lässt sie die Kinder in Bethlehem ermorden. Das Kind Jesus bleibt aber am Leben. Die Bäume der Mächtigen wachsen eben nicht in den Himmel. Die Pläne des Herodes gehen nicht auf.  Der Lauf der Geschichte hat gezeigt, dass die Klugheit von Menschen ihre Grenzen hat. Ich war entsetzt über meine rumänischen Sprachkenntnisse. Aber ich erinnerte mich an die Worte Jesu aus der Aussendungsrede an die Jünger: „Doch wenn sie euch ausliefern, so sorgt euch nicht darum, wie oder was ihr reden sollt. Denn es wird euch in jener Stunde eingegeben werden, was ihr zu sagen habt“ (Matth. 10,19f). Übrigens gehörten ja Verfolgung und Trübsal schon immer zum Leben eines Jüngers oder Nachfolgers Jesu. Ich hatte das

Gefühl, dass nicht ich redete, sondern etwas in mir.

Seit fast 2000 Jahren geht es mit diesem Jesus weiter, fuhr ich fort. Wo Menschen sich gegen ihn richten, da handelt Gott und spricht eine deutliche Sprache. Auch die Engel mussten her, auch die ersten Zeugen Stephanus und Jakobus kamen vor und Petrus und Paulus und Dietrich Bonhoeffer und weiß ich wer noch alles und dass die Kirche nicht stirbt, auch wenn Menschen sich gegen sie stellen. Sie lebt, weil Gott ihr beisteht. Sie wird nicht erhalten von Päpsten und Patriarchen, Bischöfen und Theologieprofessoren oder von kleinen Pfarrern.

 Bildete ich es mir nur ein, dass meine Predigt Wirkung zeigte oder hatte mein Gegenüber bloß Mitleid mit mir, weil ich mich so linkisch ausdrückte. Jedenfalls wurde seine Stimme milder und er ging in einen sanfteren Tonfall über. Oder war es vielleicht der Blick durch das Fenster, wo sich auf dem Platz vor dem Kirchenaufgang inzwischen ein Lichtermeer von Sturmlampen angesammelt hatte (es gab noch kein elektrisches Licht in Trappold), weil es wie ein Lauffeuer durch die Reihen ging: „Unser Herr Vater ist im Sfat festgehalten“. Oder hatte wirklich meine Predigt durch alle heiligen Weihnachtsengel ihre Wirkung getan?

Das erste erlösende Wort war: „Puteţi pleca“. So wie der Prokurator Felix erschrak, als Paulus beim Verhör von Gerechtigkeit und Gericht sprach und Felix sagte: „Es reicht für heute, geh! Nach einiger Zeit werde ich dich wieder  rufen lassen (Apg. 24,25).

 Schnell ging´s nach Hause. Umziehen, nichts vergessen, und diesmal unrasiert direkt in die Christvesper. Da erst erfuhr ich, dass sich auf einer anderen Ebene ein anderes Drama abgespielt hatte. Die Schulkinder wurden im „Cămin cultural“ (Kulturhaus) festgehalten, regelrecht eingesperrt. Von innen schlugen die Kinder an die Tür, während von draußen die jungen Familienväter die Tür gewaltsam öffneten und ihre Kinder befreiten. Mit nicht großer Verspätung konnte der denkwürdige Gottesdienst beginnen. Es war ein kalter Winterabend mit wenig Schnee.

(Nie mehr in meiner 43-jährigen Dienstzeit sollte noch einmal ein Weihnachtsgottesdienst gestört werden.)

DER SCHLUSS

Meine Pflicht war es, dem Bischof den Vorfall zu melden.

Damals gab mir Bischof Friedrich Müller Rückendeckung, für mich ein starker Mann, der immerhin in schweren Zeiten die Gründung eines Theologischen Institutes und einer Kantorenschule durchsetzte. Auch wenn man den Eindruck hatte, als hätte damals Bischof und Konsistorium über die Vorkommnisse hinweggesehen und manchmal zu viel Loyalität gezeigt, in meinem Fall war es anders. Einen Eingriff in das innerkirchliche Leben ließ Bischof Müller damals und später noch einmal im Zusammenhang mit meinen Konfirmanden, nicht zu.

An diesem Abend schmückte ich den Baum erst nachts kurz vor 12 Uhr. Zufrieden, erlöst und verwundert kreisten meine Gedanken zwischen dem, was alles heute geschehen war und der Predigt für den ersten Weihnachtstag 1960 in Trappold. Die Weihnachtspost und das Paket von zu Hause müssten noch bis morgen warten aber das Christpaket von meiner Geliebten werde ich öffnen. Neben dem Brief und viel Süßem und sinnvollem Geschenk lag eine Silberdistel. Sie war so schön und ebenmäßig anzusehen. Als ich sie anfasste, stachen ihre Stacheln in meinen Finger. Sie erinnerte mich an diesem Abend an die Dornenkrone.